Buckelwale und Mangroven

Nick Mesui-Koch

Ein Moment in den Mangroven von Tonga bringt eine Erkenntnis über Zugehörigkeit und Kindheitsträume. Von tropischen Lebensräumen und der Suche nach einem Ort, der sich wie Zuhause anfühlt.

Fotos: Nick Mesui

Buckelwale und Mangroven

Nick Mesui-Koch

Ein Moment in den Mangroven von Tonga bringt eine Erkenntnis über Zugehörigkeit und Kindheitsträume. Von tropischen Lebensräumen und der Suche nach einem Ort, der sich wie Zuhause anfühlt.

NUKU’ALOFA, TONGA – Ich wusste nie wirklich, wo ich hingehörte. Doch das war nicht das, was mir durch den Kopf ging, als ich barfuß über die verschlungenen Wurzeln eines Mangrovenbaums schritt. Birkenstocks in der einen Hand, die Kamera in der anderen. Der Boden fühlte sich weich und feucht an.

Es war Ebbe, und ich erkundete einen Mangrovenwald auf der Insel Nukunukumotu, nicht weit von Tongas Hauptstadt Nuku’alofa entfernt. Aber irgendetwas was seltsam. Ich spürte ein warmes, beruhigendes Gefühl, das sanft in meiner Brust pulsierte.

Ich hörte auf, mich auf die Flora und Fauna um mich herum zu fokussieren, und beobachtete nur. Ich legte die Kamera ab und sah meine Freunde Michael und Toshiya, wie sie über den Strand wateten und ihre eigenen Entdeckungen machten. Hinter ihnen, vom ruhigen Ozean getrennt, lagen Gruppen kleiner tropischer Inseln, die so weit verstreut waren, dass sie nur wie dunkle Punkte am Horizont erschienen.

Ich atmete tief die salzige Luft ein, sie hatte eine feuchte, leicht fischige Note. Ich mochte diesen Geruch. Ein weiblicher Fregattvogel zog durch mein Blickfeld. Plötzlich durchströmte das Gefühl der Ruhe meinen ganzen Körper, ein sanftes Kitzeln.

Das ist der Ort.

Dieser Gedanke kam wie aus dem Nichts, und ich erinnere mich, dass ich ihn aus einer Art Beobachterperspektive betrachtete. Ich hatte ihn nicht bewusst gedacht, er war einfach da – genau wie das ruhige Gefühl, das in mir aufstieg, während ich die Mangroven erkundete.

Ich wusste, was er bedeutete.

Doch nicht Tonga, kam dann ein Gedanke, diesmal bewusst, sondern ein Ort wie dieser. Ein Ort in den Tropen, umgeben von Regenwald, Mangroven, Meeresleben und fröhlichen, herzlichen Menschen. Das Gefühl blieb, als würde es zustimmen.

Es war seltsam, das zu denken. Ich komme aus dem dichten Beton-Dschungel des Rhein-Ruhr-Gebiets, der größten Metropolregion Deutschlands.

Die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, war rein urban. Natürlich hatten wir ein paar Wälder und ein schönes Naturschutzgebiet am lokalen Fluss, aber ansonsten würde ich die Gegend als grau und industriell beschreiben. Menschen aus anderen Teilen Deutschlands machen sich über die Hässlichkeit meiner Heimatregion lustig.

Wie konnte es also sein, dass ich das, was ich mein Leben lang gesucht hatte, in den Mangrovenwäldern von Tonga fand?

Tonga | Nukunukumotu Island

OBEN: Bei Ebbe durch die Mangrovenwälder der Insel Nukunukumotu. Neben Dschungeln und Korallenriffen mein liebster Lebensraum auf diesem Planeten.

Als Kind lieh ich einmal ein Buch in der örtlichen Bibliothek aus, das sofort zu meinem Lieblingsbuch wurde. Es war wunderschön illustriert und zeigte die verschiedenen Lebensräume auf unserem Planeten und die Tiere, die in ihnen leben. Ich liebte es, weil man jedes Mal neue Tiere entdeckte, wenn man eine Seite betrachtete.

Eine Doppelseite liebte ich besonders. Sie zeigte einen Regenwald, der an einen tropischen Strand grenzte. Die Vegetation war in vielen Grüntönen gezeichnet, und die abgebildeten Tiere waren mir neu und exotisch. Es gab Tapire, seltsame Krabben am Strand, Wale im Ozean und … einen Fregattvogel am Himmel.

Ich bat meinen Vater, diese Doppelseite farbig auszudrucken – Farbkopien waren damals ziemlich teuer. Er druckte das ganze Buch. Eine Zeit lang war ich völlig fasziniert von meiner Kopie und benutzte sie, um eigene Tierlebensräume zu zeichnen, immer wieder. Ich lebte meine Leidenschaft aus.

Meine Zeichnungen wurden von häufigen Tagträumen über ferne Orte begleitet. Jedes Wochenende freute ich mich, denn dann liefen im deutschen Fernsehen oft Naturdokumentationen. Ich saß direkt vor dem Fernseher und ließ mich in all diese wundersamen, exotischen Welten entführen. Neben den Tropen gab es noch einen anderen Ort, der mich tief faszinierte: die Unterwasserwelt.

Tonga | Nukunukumotu Island

OBEN: Meeresschnecken an einem Mangrovenbaum. Mangrovenwälder sind besonders artenreiche Lebensräume und bieten der heimischen Tierwelt einen sicheren Ort zum Nisten, zur Fortpflanzung und zum Heranwachsen der Jungtiere.

Die Lebewesen dort waren so anders, es war hypnotisierend. Ihre Welt erschien mir wie ein anderer Planet. Die Korallenriffe, Kelpwälder, Mangroven, die Tiefsee – eines Tages werde ich all diese Orte besuchen, träumte ich damals.

Doch mit jedem Jahr wurden meine Zeichnungen und Tagträume seltener. Das Erwachsenenleben rief, und mit ihm kam das Vergessen.

In der Schule musste ich auf geometrische Formen achten, obwohl ich lieber Tiere gezeichnet und über Lebensräume fantasiert hätte. Leider funktioniert unser standardisiertes Bildungssystem so. Wir müssen in geordnete Klassenzimmer sitzen, still sein und unsere Zeit und Mühe Fächern widmen, die uns nicht interessieren.

In einem System, das auf Konformität und Massenbildung ausgelegt ist, gibt es keinen Raum für unsere individualistischen Ausdrucksformen und Leidenschaften. Dazu kommen Gruppendruck und soziale Etikette, die uns noch mehr Einzigartigkeit nehmen. Natürlich verblassen unsere Kindheitsträume und Wünsche mit jedem Schuljahr ein wenig mehr.

So war es auch bei mir.

Tonga | Tongatapu

OBEN: Die Mapu’a Vaea-Blaslöcher auf der Hauptinsel Tongatapu. Am Horizont sahen wir, wie ein Buckelwal die Wasseroberfläche durchbrach.

Nach zwölf Jahren in diesem Bildungssystem kam ich verloren und verwirrt heraus. Ich wusste nicht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, ich wusste nicht, wohin ich gehörte, und natürlich wusste ich nicht, wer ich im Innersten meiner Seele war. Seltsam, denn hatte ich das nicht einmal gewusst?

Dokumentationen und Tiernamen wurden zu fernen Erinnerungen, die von Zeit zu Zeit auftauchten, wenn ich mit ihnen in Berührung kam. Doch ich verstand nicht, dass das Aufblitzen von Freude, wenn ich eine Naturdokumentation sah oder ein wildes Tier erblickte, etwas bedeutete. Stattdessen stolperte ich herum, wurde im Lauf der Jahre Polizist und träumte von einer besseren Zukunft, einem Ort, an dem ich endlich Frieden finden würde.

Obwohl ich viel reiste, fand ich diesen Ort nie. Das Gefühl des Ankommens und des Friedens stellte sich nie ein. Als die Covid-Pandemie 2020 ausbrach, kam mein exzessives Reisen abrupt zum Erliegen. Ich fühlte mich mehr verloren und verwirrter als je zuvor. Es war eine dunkle Zeit … und ein Segen im Verborgenen.

Nach einigen Monaten des Leidens und Selbstmitleids begann mein Unterbewusstsein wieder zu mir zu sprechen. Ich hatte genug und setzte mich eines Tages hin, um alles aufzulisten, was ich vor meinem Tod tun wollte. Und es gab ein gemeinsames Thema auf meiner Bucket List: 35 von 85 Punkten hatten mit den Tropen oder der Unterwasserwelt zu tun.

Seltsam, aber plötzlich kehrten die Tagträume zurück. Ich verstand nicht, was geschah, aber ich nutzte den Moment und reiste während meines Sabbaticals 2021/22 nach Mittelamerika. Dort entdeckte ich zum ersten Mal die Tropen und die Unterwasserwelt.

Ich lernte im tropischen Wasser der Dominikanischen Republik tauchen, begegnete der reichen Biodiversität Panamas und Costa Ricas und entwickelte meine Leidenschaft für Mangrovenwälder bei Touren in Rio Lagartos, Mexiko, und den Everglades, Florida.

Manatis, Spinnenaffen, Faultiere, Tukane, Adlerrochen, Weißspitzen-Riffhaie – die Tiere, denen ich an diesen Orten begegnete, waren genau die, die ich in meinem Kindheitslexikon und in Naturdokumentationen gesehen hatte.

Zusätzlich zu diesen wunderbaren Kreaturen traf ich auf die warmherzigen, aufrichtigen Menschen, die in diesen Regionen lebten. Ich war glücklich und fühlte mich lebendig. Doch das große „Erinnern“ blieb aus. Das Vergessen und die Konditionierung des Alltags waren noch zu stark.

Tonga | Nukunukumotu Island

OBEN: Die Mangroven von Nukunukumotu Island.

Als mein Sabbatical endete, verließ ich die Tropen und die Unterwasserwelt und entfernte mich erneut von dem Ort, an dem ich mich am lebendigsten gefühlt hatte. Die Tiere, tropischen Strände, Mangroven und Korallenriffe wurden wieder zu fernen Erinnerungen an vergangene Reisen. Zurück in Deutschland, wo ich meinen Polizeijob beendete, und später in Aotearoa/ Neuseeland, wo ich arbeitete, fühlte ich mich mehr und mehr entfremdet. Warum? Ich konnte es nicht in Worte fassen.

Doch es brauchte nur noch eine letzte Erfahrung – den sprichwörtlichen „Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“ – um mich zu erinnern.

Ende Mai 2023 schrieb mir mein Freund Conrad, der gerade einen besonderen Ort besucht hatte: „Hey Nick, du solltest wirklich in den nächsten Monaten nach Tonga reisen. Es ist Buckelwalsaison, und Tonga ist einer der wenigen Orte auf der Welt, wo du mit ihnen schwimmen kannst.“

Es war eine schöne Fügung, denn auf meiner Bucket List stand ein ganz bestimmter Punkt: „Wale sehen“. Lange hatte ich nicht mehr an diesen Wunsch gedacht, bis Conrad mir von dieser Möglichkeit erzählte.

Ich recherchierte und fand heraus, dass die Buckelwale tatsächlich zwischen Juli und Oktober nach Tonga kommen, um ihre Jungen in den warmen Gewässern des Südpazifiks zur Welt zu bringen. Es sprengte eigentlich mein Budget, aber ich beschloss, diesen Lebenstraum zu priorisieren, buchte die Flüge und war wenige Wochen später unterwegs. Die Tour war gleich für den zweiten Tag geplant.

Wir waren gerade mitten im offenen Ozean ins Wasser gesprungen, kein Land in Sicht, und mein Körper passte sich noch an die Wassertemperatur an, als der Guide plötzlich rief und nach unten zeigte. Mein Herz pochte heftig, als ich meinen Kopf unter Wasser tauchte, um nach unten zu sehen.

Durch die winzigen roten Flecken von Zooplankton hindurch sah ich zwei ausgewachsene Buckelwale, die sich anmutig durchs Wasser bewegten. Sie waren vielleicht dreißig Meter entfernt und hatten uns definitiv bemerkt, denn sie änderten ihren Kurs direkt in unsere Richtung.

In etwa fünfzehn Metern Entfernung, jetzt direkt unter mir, drehte sich einer der Wale langsam zur Seite. Vielleicht, um uns Menschen, die so lustig starrten und wild paddelten, genauer anzusehen. Während er sich drehte, sah ich dem Wal direkt in die Augen.

Er wirkte höchst bewusst und … so lebendig.

Dies war ein sehr intelligentes Wesen, genauso neugierig und sich unserer Anwesenheit bewusst, wie wir seiner. Die Bewegungen, die er machte, die sanften Drehungen und Wendungen, waren Ausdruck reiner Lebensfreude. Dieses Tier war glücklich, am Leben zu sein – das konnte ich sehen. In diesem kurzen Augenblick fühlte ich eine tiefe Verbindung zu diesem großartigen Geschöpf. Einem Tier, das ich mir seit meiner Kindheit erträumt hatte, zu sehen.

Obwohl mein Puls so heftig schlug, dass ich ihn bis in meinem Hals spürte, war meine Seele im Frieden. Eine Minute später schwammen die beiden Wale weiter und verschwanden langsam in der tiefen Bläue.

Etwas in mir hatte sich verändert.

Tonga | Pazifischer Ozean | Buckelwal

OBEN: Einer der Buckelwale, die mich daran erinnerten, wo ich im Leben hingehöre.

Aber was genau?

Es war ein stiller Sonntag, als meine Freunde Toshiya, Michael und ich beschlossen, zur Insel Nukunukumotu zu fahren. Als wir vor dem flachen Flussdelta standen, das uns von der Insel trennte, entdeckte ich einen riesigen Mangrovenwald. Ich war von seiner Schönheit gefangen.

Wir wateten durch das Wasser, und ich entfernte mich etwas von meinen Freunden, um tiefer in den Wald vorzudringen. Angetrieben von meiner Leidenschaft für Mangroven, schlenderte ich herum und filmte ein wenig. Jede Pfütze und jeder Baum lud mich ein, innezuhalten und zu staunen, denn überall gab es winzige Lebensformen, die in diesen kleinen Mikrokosmen lebten.

Ein Seestern bewegte sich langsam über den nassen Sand. Ein Reiher ging in einer Pfütze auf Jagd, nur ein paar Meter entfernt. Kleine Fische versuchten panisch zu entkommen, als sie mich bemerkten, doch es gab für sie keinen Fluchtweg. Eine Seegurke klebte an einem Blatt.

Ich ging weiter und weiter in den Wald hinein, trat vorsichtig über die verschlungenen Wurzeln der Mangrovenbäume, Birkenstocks in der einen Hand, Kamera in der anderen. Dieser Ort war der Ort, an dem ich sein wollte.

Und dann kam es alles zurück.

Der Moment des innigen Kontakts mit den Buckelwalen zwei Tage zuvor. Meine Zeit in Mittelamerika. Die lebenslange Suche nach Frieden und dem Gefühl des Ankommens. Mein kindliches Selbst, wie es auf dem Wohnzimmerteppich saß, eine Naturdokumentation lief auf dem Bildschirm. Farbige Stifte. Die Kopie des Lexikons. Meine Träume. Meine Leidenschaft für die Tierwelt, die Tropen und die Unterwasserwelten …

In diesem Augenblick …

fand ich mein Zuhause.

Tonga | Tongatapu